Rudi Gutte
Politische Bildungsarbeit ehemaliger EH und Hauptamtlicher
Hier: „Wahrheit und Klarheit für die nächsten Generationen“ – Rede von Rudi Gutte für die Bürgerinitiative „Gegen das Vergessen“ Burgwedel am 09.04.2022
Wir begehen hier und heute unsere 17. Gedenkveranstaltung „Gegen das Vergessen und stellen fest: In der Zwischenzeit sind neue Generationen herangewachsen.
Es leben kaum noch Opfer oder Täter aus der Zeit der Hitler Diktatur und des Weltkrieges. Die meisten von uns – ich schließe uns alle ein – haben einen Krieg wie er seit dem 24 Februar in der Ukraine herrscht, in Europa für ausgeschlossen gehalten. Kriegsverbrechen gegen Zivilisten, Frauen und Kinder, die Zerstörung von Krankenhäusern, Schulen und öffentliche Versorgungseinrichtungen in übelster SS-Manier, ist ein unfassbarer Rückfall in die Anfangsphase des vergangenen Jahrhunderts. Kriege entwickeln rasant irrationale Dynamiken. Putin droht mit dem Einsatz von Atomwaffen. Plötzlich steht die Welt am Rande eines Atomkrieges.
Viele Menschen werden wieder zu Opfern. Bitte bringen wir am Anfang unseres Treffens unser Mitgefühl durch eine gemeinsame Schweigeminute für das große Leid, das mit dem russischen Überfall auf die Ukraine verbunden ist, zum Ausdruck.
Diese Scheune, vor der wir stehen, ist ein authentischer Tatort eines nationalsozialistischen Gewaltverbrechens, die Erschießung von wie berichtet 20 KZ-Häftlingen beim Versuch, sich ein Stück Brot vom mitgeführten Proviantwagen vor der Scheune zu nehmen. Die Wachmannschaft handelte befehlsgemäß und erschoss die vom langen Tagesmarsch erschöpften, ausgehungerten Menschen gnadenlos. Geschehen in der Osterwoche 1945. drei Tage vor der Befreiung GBWs.
Die Häftlinge waren Menschen, wie du und ich. Sie hatten Eltern, viele waren verheiratet, hatten Ehefrauen und Kinder. Hartmut Badenhop, der spätere Landessuperintendent der Evangelischen Lutherischen Kirche von Hannover, hat das Ergebnis des furchtbaren Geschehens als Augenzeuge glaubwürdig wiedergegeben. Dreimal hat Pastor Badenhop hier vor uns gestanden und Einzelheiten vom damaligen Ereignis geschildert. Wir bedauern, dass er aus gesundheitlichen Gründen heute nicht bei uns sein kann.
Wer waren die Opfer und was machte sie zu KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern?
Ihre „Schuld“, der auch als Strafgefangene bezeichneten Häftlinge, bestand bei vielen darin, als Juden geboren worden zu sein. Die wenigen Juden, die den Holocaust bis zum Ende des Krieges überlebt hatten, sollten als Zwangsarbeiter im Programm „Vernichtung durch Arbeit“ noch zum Endsieg beitragen und durch unerträgliche Arbeitsbedingungen ums Leben kommen.
Andere Häftlinge hatten sich in ihrer Heimat der deutschen Besatzungsmacht widersetzt. Es befanden sich viele Franzosen, Mitglieder der Resistance, Polen, Ungarn, Belgier und wohl auch Sowjetbürger unter ihnen. Sie galten den regimetragenden „Herrenmenschen“ als „minderwertige Untermenschen“. Überhebliche Menschenverachtung war Programm, was hier kaltblütig ausgeführt wurde.
Nur drei Häftlingen der vor der Scheune angeschossenen Menschen gelang es, sich schwerverletzt ins Innere der Scheune zu schleppen. Sie verstarben im Laufe der Nacht an ihren Verletzungen und wurden dort am nächsten Morgen von der Begleitmannschaft vergessen. Die hier auf der Gedenktafel genannten drei KZ-Häftlinge lagen fast 70 Jahre anonym auf dem kirchlichen Friedhof. Einer dieser drei, ein Franzose, Mitglied der Resistance, konnte kürzlich vom Netzwerk: „Erinnerung und Zukunft“ identifiziert werden. Der Ortsrat ist informiert und wird sicher die Erinnerungstafel auf dem Friedhof ergänzen.
Die anderen Erschossenen wurden auf die mitgeführten großen zweiräderigen flachen Handkarren gelegt und außerhalb Großburgwedels meist am Wegrand verscharrt. Noch viele Jahre später fanden Studenten der Geschichte der UNI-Hannover 41 dieser Leichen in provisorischen Gräbern entlang des Weges.
Zurück zu den Häftlingen: Insgesamt waren es über 4500 Menschen, die seit Herbst 1944 in sieben kriegswichtigen hannoverschen Betrieben Zwangsarbeit leisten mussten. Getreu dem Programmmotto starben allein in den Stöckener-Batterien-Werken monatlich 80 Häftlinge an Bleivergiftung wird berichtet.
Alle fünf als Evakuierungsmärsche mit jeweils knapp 1000 Häftlingen begonnenen Marschkolonnen wurden auf dem Weg zum KZ-Bergen-Belsen durch unseren Ort getrieben und wegen des enormen Blutzolls zu „Todesmärsche“. So werden sie auch in der historischen Berichterstattung genannt.
Ingrid Schaumann und Hanni Pielmann haben als Kinder den Durchzug der Elendskolonnen durch unseren Ort erlebt und uns ihre erschütternden Eindrücke von den völlig abgemagerten, dehydrierten Hungergestalten die um Wasser flehten, geschildert. Auch Michael Nagel, damals 15 Jahre alt, hat u. a. seine Beobachtungen an der Landstraße nach Fuhrberg, lesenswert niedergeschrieben. Wer Nagels Bericht noch nicht kennt, möge sich bei mir melden, ich maile die acht eng beschriebenen Seiten Großburgwedeler Ortsgeschichte jeden gerne zu.
Für die hier gemeinten drei Ermordeten fiel der Nachweis leicht, denn sie lagen noch nach Abzug der großen Marschkolonne vergessen in der Scheune und wurden erst im Laufe des nächsten Tages dort gefunden. Man beerdigte sie am 08. April 1945 anonym im sog. Russengrab. Dort wurden sie vergessen.
Die Massentötung hier an der Scheune wurde 64 Jahre lang am Ort verdrängt. Zu Beginn der MM-Debatte im Frühjahr 2007 hieß es unisono, in GBW habe es keine örtlichen Opfer der NS-Gewaltherrschaft gegeben.
Die Jubiläumsbroschüre der Pestalozzi-Stiftung war bereits veröffentlicht und diese Tafel gemeinsam mit der Stadt angebracht. Pastor Andreas Seifert begrüßte die Gründung unserer Bürgerinitiative, die seit 2005 an diese Massenerschießung erinnert und damit dieser Gedenktafel eine zusätzliche Bedeutung gibt.
Leider werden bisher lediglich die drei auf dieser Tafel genannten Häftlingen mit ihrer eintätowierten KZ-Nr. (seit 2011) auf dem Mahnmal, ohne weitere Spezifizierung auf der Opfertafel erwähnt. Dabei wäre ein Hinweis allein auf den Programmnamen: „Vernichtung durch Arbeit“, für alle Betrachter ein wichtiger Anhaltspunkt für die damalige menschenverachtende NS-Denkweise.
Nicht zu verstehen ist, dass Fehlen jeglicher Erwähnung der übrigen hier zu Tode gekommenen Menschen. Sie seien in unserer Gemeinde nicht gemeldet gewesen, wird argumentiert. Diese Sichtweise können wir beim besten Willen nicht nachvollziehen. Sie verloren hier in unserem Ort ihr Leben. Können wir Menschen mehr verlieren?
Das bringt uns zum nächsten Anliegen unserer Bürgerinitiative. Mit der Einladung zu dieser Veranstaltung, wurden alle Ortsratsmitglieder GBWs gebeten, sich einer lange überfälligen Opfergruppe, die keine Lobby hat, zu widmen.
Wir appellieren von hieraus an unsere Kommunalpolitiker sich mit der Ermittlung der mit unserem Ort verbundenen Vernichtung von „lebensunwertem Leben“, das Euthanasieprogramm zu beschäftigen. Es war ein monströses, unmenschliches staatliches Mordprogramm, das reichsweit zwischen 250- 300.000 Menschenleben kostete. Die uns vor Jahren von der Stadtverwaltung vorgelegten gemeindeamtlichen Meldebögen über die Zu- und Abgänge von Bewohnern der Pestalozzi-Stiftung in den Jahren 1940 – 1945, lassen zwischen 50 bis 60 Betroffene vermuten. Eine ähnliche Opferzahl äußerte bereits 2011 die Historikerin des Volksbund (VDK).
Wir fassen zusammen:
Wir gedenken und erinnern hier aller Opfer des Krieges und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft von 1933 – 1945. Das schließt das Bekenntnis zur deutschen Verantwortung ein. Der Angriffs- und Vernichtungskrieg ging von Deutschland aus. Es war keine Naturkatastrophe, er wurde vorbereitet, geplant und ausgeführt von Deutschen und im deutschen Namen. Diejenigen, die heute die Politik bestimmen, sind daran nicht schuld. Aber in der Verantwortung stehen wir alle. Die Verantwortung verjährt nicht! Versöhnung kann man nicht einfordern, aber sie wurde durch unser klares Bekenntnis zur Schuld erst möglich.
Ehrlichkeit und wahrheitsgetreue historische Aufarbeitung der NS-Verbrechen auch auf Ortsebene sind selbstverständliche Voraussetzung.
Noch verbliebene Defizite sollten unverzüglich aufgeklärt werden. Die neue Bürgermeisterin hat dafür Mittel im laufenden Haushalt eingestellt.
Wie es im unserem Jahresrhythmus Tradition ist, wird sich das neue Vorstandsmitglied der Pestalozzi-Stiftung, Andrea Sewing und der Sprecher des Buß- und Erinnerungsmarsch von Hannover nach Bergen-Belsen, Wolfgang Schwenzer gleich anschließend äußern.
Danach singen wir wieder gemeinsam die beiden Friedenslieder -Die Moorsoldaten und Das Zeichen von Ben Chorin. Anschließend schmücken wir wieder gemeinsam im würdigen Gedenken an die erschossenen Häftlinge, diesen Busch unterhalb der Gedenktafel mit unseren Blumen.
Rudolf Gutte für die Bürgerinitiative
Zum Autor
Rudi Gutte, geb. 1938 in Bremen, Chemotechniker und Absolvent der „Akademie der Arbeit“ in Frankfurt a. M. Seit 1963 entwicklungspolitisch engagiert. Zunächst als Gewerkschaftsberater der Friederich Ebert Stiftung in Malaysia, seit Mitte 1966 Kursleiter des DED in Wächtersbach, später Beauftragter in Malaysia. 1972/73 Leitung der neuen DED-Vorbereitungsstätte (Afrika) in Berlin-Kladow. Vom Januar 1974 bis Ende 1977 Beauftragter in Brasilien–Nordost. 1977-1979 stellv. Leiter der Vorbereitungsabteilung der DED-Zentrale in Berlin.
Im Dezember 1979 Wechsel zur Carl Duisberg Gesellschaft (CDG) als Landesstellenleiter in Niedersachsen. Von Mitte 1983 bis Ende 1987 Tätigkeit als Sozialreferent an der deutschen Botschaft in Tel Aviv. Anschließend Leitung der Landesstelle Bremen der CDG bis zum Wechsel als Referatsleiter in die Zentrale der CDG in Köln. Letzte Tätigkeit vor Verrentung: Regionaler Fachkoordinator für den DED und der CDG im südlichen Afrika.
In seiner fast 20 jährigen Tätigkeit als Stadtrat in Burgwedel kümmerte sich Rudi Gutte um die Aufarbeitung der örtlichen Nazi-Verbrechen und dabei um die Errichtung eines Mahnmals zum Gedenken an die NS-Opfer (festgehalten in einem 200 starken Buch: Rudi Gutte, Vom Soldatenehrenmal zum Denkmal für alle Opfer des Nationalsozialismus. Ein Lehrstück deutscher Erinnerungskultur. ISBN: 9783955651794 | Kostenloser Versand für alle Bücher mit Versand und Verkauf durch Amazon.)