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Christoph Dehn: „Paraiso - Das verborgene Paradies“
Verlag: AT Edition Münster, 2021
300 Seiten; 19,90 €
ISBN 9783897812765externer Link

Rezension von Bernhard Hoeper

Paraiso
„Paraiso -
Das verborgene Paradies”
von Christoph Dehn

Vielleicht liegt es an der Perspektive, mit welchem eigenen Hintergrund man „Paraiso – Das verborgene Paradies“, den Debütroman von Christoph Dehn liest: als Beziehungsgeschichte einer verlorenen Jugendliebe, als politische Erinnerungskultur, als Versuch mit sich selbst im Alter zurückblickend „ins Reine“ zu kommen, seinen Frieden zu finden oder als Abschluss, „Closure“, quälende Zweifel beiseite zu legen. Insbesondere diejenigen, die sich in der philippinischen Solidaritätsarbeit engagieren bzw. engagiert haben, werden sich hier und da wiederfinden, in der Reise, die wir mit Jan Grosz, dem Protagonisten des Buches, miterleben, die, der Vergleich im Land der Philippinen mit seinen siebentausend Inseln mag hinken, einem „Roadmovie“ zurück von den 80er Jahren bis heute gleichkommt.

Der Klappentext konstatiert nüchtern: „Zwei Tote geistern nachts durch die Träume von Jan Grosz. Ein korrupter Bischof und die Chefin einer Entwicklungsorganisation kamen vor einem Vierteljahrhundert auf den Philippinen zu Tode. Jan hatte die Ereignisse in Bewegung gesetzt, bei denen sie ihr Leben verloren. Welche Schuld trägt er an ihrem Tod? Was haben die gestürzte Marcos-Diktatur und die Krise der linken Aufstandsbewegung mit den Todesfällen zu tun?“

Jan bricht auf, nunmehr in der Gegenwart mit seiner Tochter Jule in Deutschland über Internet unregelmäßig in Kontakt bleibend, die kritisch hinterfragend verstehen möchte was ihn antreibt und welche Bedeutung die einzelnen „Stationen“ und Menschen wie Kaloy, Ben und Ka Linda, Diwa für ihn haben. Geschickt mischt der Autor hier die gemeinsame Kommunikation mit Jule mit Informationen, die er direkt den Lesenden zukommen lassen will, mit anderen Formen, wie den Briefen Diwas, mündlichen Nachrichten per Telefongespräch, Notizen und eigenen, aus dem Gedächtnis hochkommende Erinnerungen, die dem historischen Zeitstrahl politischer Ereignisse gegenübergestellt und dann mit ihnen und konkreten Orten, wie Manila, Cebu, Silliman auf Negros und Davao verknüpft werden.

Mit großer Einfühlungs- und Beobachtungsgabe nimmt uns der Autor mit:

„Manila. Keine Chance nachzudenken. Diese Stadt fordert mich ohne Erbarmen. Sie saugt mich auf und hält mich fest. In dem Moment, in dem ich das Flughafengebäude verlasse, schlägt die schwüle Hitze des frühen Abends mit ihrem schweren nassen Lappen nach mir. Ich drücke den Rücken durch und stemme mich der Schwüle entgegen. Wegducken hat keinen Sinn. Da ist er wieder, der Straßenlärm, die tausend Hupen, die blechernen Musikanlagen der Jeepneys, die Rufe der Dispatcher, immer wieder übertönt vom Dröhnen der startenden und landenden Maschinen. Und dann der Geruch, diese überwältigende Mischung aus Leben und Vergehen in dieser unglaublichen Stadt.“ (S. 7).

…und lässt uns geradezu intim an Jan Grosz teilhaben:

„Die Erinnerungen drängen wieder an die Oberfläche. Wie Blasen aus einem gärenden Morast in lichtloser Tiefe steigen sie auf und drängen in meinen Kopf. Da platzen sie und stinken. Meine Erinnerungen. Bilder aus einer vergangenen Zeit. Wie oft haben mich die Bilder wachgehalten, morgens um halb fünf, zu spät, um wieder einzuschlafen, zu früh, um bereits aufzustehen. Die Jahre haben meine Bilder mit dem Schweiß des frühen Morgens getränkt. Der Schweiß ist getrocknet und hat die Erinnerung nach und nach erstarren lassen. Dann habe ich gelernt, die Bilder beiseite zu schieben, als hätten sie kleine Räder. Aber nun steigen sie wieder auf.“ (S. 6)

Mit einfachen, kurzen, fast dokumentarischen Sätzen skizziert er nachvollziehbar die Genese oder dürfen wir sagen das Milieu der 90er Jahre aus dem sich alles für Jan entwickelt hat:

„Aus der WG war ich schon vor Monaten ausgezogen und hatte mit Jutta eine Dreizimmerwohnung bezogen. Als Jutta schwanger wurde, waren wir in ein Reihenhaus auf der anderen Rheinseite gezogen. (…) In den 1990-er Jahren hatten wir bei der Weltverantwortung immer noch die dunkelroten Postumlaufmappen. Die Post wurde zentral geöffnet, auf die Referate verteilt und zu den Referatsleitern gebracht. Wenn die Referatsmappe mich erreichte, stank sie nach Rauch; unser Referatsleiter las die Post meist im Raucherzimmer. Der April 1994 war kalt und ungemütlich. (…) Es ging um das Coastal Development Center CDC in den Philippinen. Dort gebe es einen „widespread misuse of funds“, Veruntreuung und Unterschlagung von Hilfsgeldern der Weltverantwortung. Der Freund von Wahrheit und Ehrlichkeit nannte eine Reihe von konkreten Vorhaben, die von uns finanziert, aber nie durchgeführt worden seien“. (S. 68-69)

Dabei spart er nicht mit kritischem Hinterfragen, wobei er es den Lesenden überlässt sich eine Meinung zu bilden, bzw. Stellung zu beziehen oder die Fragen offen zu halten:

„Ob unsere Arbeit nur eine neue Form der neokolonialen Bevormundung sei, diese Frage beleuchteten wir immer wieder bis tief in die Nacht. Zwangen wir nicht unseren sogenannten Partnern unser eigenes Entwicklungsmodell auf, weil sie nur dafür von uns gefördert wurden. Wäre es nicht anständiger, statt von Entwicklungshilfe von Wiedergutmachung zu sprechen, unsere finanzielle Unterstützung von allen Bedingungen zu lösen und die Mittel zur freien Verfügung an unsere Partner zu geben. Reparationen für Jahrhunderte kolonialer und imperialistischer Ausbeutung der Dritten Welt.“ (S. 67/68)

Und da ist natürlich „Paraiso“, ein abgelegener, einfacher Strandresort zu dem hier nichts weiter verraten werden soll, außer dass er ein geschützter Ort mit Zeit für vertrauliche Begegnungen, Verabredungen, Reflexionen und „Wiedertreffen“, gemeinsames Essen und Trinken ist. Ob dort auch Geborgenheit zu finden ist, bleibt jedoch offen. Dort werden wir dann in Dialoge und Rückblenden gezogen, die den politischen Teil der Geschichte, den politischen Teil des Romans und sein Anliegen zwischen zivilgesellschaftlichen Nicht-Regierungs-Organisationen (NGO) und der New People‘s Army (NPA), dem bewaffneten Zweig der kommunistischen Partei der Philippinen, ausmachen.

[Ben]: „Du erinnerst dich an deine Jahre in den Philippinen. Nach der Erklärung des Kriegsrechts 1972 war ein guter Teil der radikalen Studenten in den Untergrund gegangen und hatte sich der NPA und der Partei angeschlossen. Viele andere wurden zu NGO-Gründern; in den späten 1970-er und 80-er Jahre schossen Organisationen wie Pilze aus dem Boden. Auf der kirchlichen Seite entstanden die Social Action Centers und radikalisierten sich. Viele dieser neuen Organisationen hatten nicht nur Sympathien für den bewaffneten Kampf der Partei.“ (S. 95)

Der historische Focus wird dann auf die (man möge die Wortwahl hier verzeihen) sogenannten „politischen Säuberungen“ innerhalb der Partei gelegt, über die in direkter Dialogform Jan berichtet wird:

[Kaloy] „Und doch fand ich nach und nach die Puzzlestücke, die zusammen ein furchtbares Bild ergaben.

Was ich im Camp-29 erlebt hatte war kein Einzelfall, kein schrecklicher Irrtum. Wie eine langsame, tödliche Flutwelle hatten sich die Säuberungen über die Philippinen ausgebreitet. Es hatte 1982 in Southern Tagalog begonnen. Über 30 Genossinnen und Genossen verloren dort ihr Leben. Am schlimmsten wüteten die Säuberungen in Mindanao, während das Zentralkomitee sein 10. Plenum in Manila abhielt. Bis Anfang 1986 kamen in der Kampanyang Ahos bis zu 1.000 Kader ums Leben. Es ist undenkbar, dass das Zentralkomitee nichts davon wusste. Und dennoch ging das Morden weiter. Takip Silim in Süd-Quezon, 30 Tote. Oplan Missing Link, 66 Tote. Olympia in Luzon, Leyte und Cebu zog sich noch bis 1989 hin, dann war endlich Schluss.

Camp-29 hier in Negros war nur eine Fußnote, ein lokaler Schnörkel des großen Schlachtens. Niemand weiß genau, wie viele Genossinnen und Genossen unter Verdacht gerieten, festgesetzt, gefoltert und nach erfundenen Geständnissen und Bezichtigungen erschlagen, erdrosselt, erstochen, erschossen wurden. Schätzungen gehen weit auseinander. Die Gräber wurden selten gesucht und seltener gefunden. Eine Aufarbeitung gab es nicht.“ (S. 192/193).

Hier passt es vielleicht kurz innezuhalten und einen näheren Blick auf das von Joni Caparas beeindruckend gestaltete Umschlagbild des Buches zu werfen: ein aus frischen, grünen Bananenblättern geformtes, gewickeltes Gewehr. Fragile Ironie der Vergänglichkeit, organische Erinnerungskultur, Verharmlosung des Untergrunds im Dschungel, Revolutionsromantik?

[Jan:] „Eigentlich erinnere ich mich kaum an die anderen Teilnehmer der Schulung. Diwa mit den ungleichen Augen faszinierte mich. Sie war wach und präsent. Wir stammten aus verschiedenen Welten, aber jetzt saßen wir gemeinsam in einem NPA-Camp in den nebligen Bergen von Abra. (S. 58).

Ein Roman, ein politisches Buch, Christoph Dehn legt Finger in Wunden, lässt politisches Versagen anklingen:

[Diwa] „Es war eine dramatische Zeit. Die Bewegung hatte die People Power Revolution verschlafen. Marcos wurde gestürzt und vertrieben und wir schauten fassungslos zu. Was war passiert, wie konnte das geschehen? Auf einmal demonstrierten Hunderttausende, Millionen auf den Straßen von Manila, spontan, ohne die ordnende Hand der Partei? Wir waren so beschäftigt mit unserer Hexenjagd auf die DPAs [deep penetrating agent; eingeschleuster feindlicher Agent, Spion, Schläfer], aber der Wind hatte sich gedreht und wir hatten es nicht gemerkt.“ (S. 270)

Fazit:
Ein spannendes Buch, mit viel Wärme, Sympathie und wacher Nachdenklichkeit. Auch über und zu sich selbst und eigener Verantwortlichkeit. Man hört das Rauschen des Meeres an der Küste von „Paraiso“. Ein aktuelles Buch mit historischer Perspektive, gerade auch nach den letzten Präsidentschaftswahlen.

Bernhard Hoeper

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